Stundenbuch des Todes


Kein Puls. 
Atemstillstand. 
Apnoë: sagen die Ärzte. 
Keine Reaktion. Auch nicht auf schmerzhafte Reize. 
Keine Reflexe. 
Das Gesicht sieht friedlich aus. Keine Angst, kein Entsetzen in diesem Gesicht. Auch nicht Schmerzen. Oder Wut. Kein Erstaunen. Nichts. 
Die Muskeln: Vollkommen erschlafft. Die Pupillen: starr. Reagieren nicht auf einfallendes Licht. Diese Augen sehen nichts mehr. 
Mydriasis, sagen die Ärzte. 
Die Leute sagen: Das Auge bricht. 
An den Wangen, am Hals bilden sich erste rote Flecken.Kirchhofrosen, nennen es die Leute. 
Der Mensch ist tot. 
So sieht es aus. 

In Wahrheit muss das nicht der Fall sein. Die Symptome können vorhanden sein, ohne dass der Tod eingetreten wäre. Pulslosigkeit. Tiefes Koma ohne Reaktion. Leichenflecken. Herkömmliche Lebensproben zeigen den Tod an. Und doch ist dieser Mensch vielleicht nicht gestorben. 
Lebt in einem Zwischenreich. 
Intermediäres Leben. 
Reduziertes Leben. 
Schein-Tod. 

Extrem reduzierte Atmung. Nicht mehr feststellbar. Extrem verlangsamter Herzschlag. Nicht mehr messbar. Selbst der Herzstillstand, das Null-Linien-EEG: kein Beweis für den Tod. Für ein Null-Linien-EEG, für das Fehlen von Hirnströmen, gibt es viele Ursachen. Eine nur ist der Tod. 

Winzige Maschinen in der Zellwand halten die Zellen des Körpers am Leben. Transportieren Natrium-Ionen nach außen. Und Kalium-Ionen nach innen. So entsteht ein elektrisches Potential, eine elektrische Spannung, zwischen Innen und Außen. Bricht das zusammen, bricht die Zelle zusammen. Kann ihren Energiehaushalt nicht mehr regeln. Natrium strömt ein. Ungehindert. Bläht die Zelle auf. Dehnt ihre Wände. Wie ein Ballon. Bis er platzt. 
Die Zelle ist zerstört. 


Die Maschinen brauchen Treibstoff. Für die Aufrechterhaltung des elektrischen Potentials; den Transport des Kaliums nach innen, des Natriums nach außen. All dies kostet Energie. Viel Energie. 


Das Gehirn hat den höchsten Energieverbrauch. Schachspieler, kaum einen Muskel bewegend, können in einer Meisterschaftspartie mehrere Kilo Gewicht verlieren. Keine Arbeit, kein Sport kann in gleicher Zeit zu solchen Gewichtsverlust führen. Denken macht schlank. Nicht nur klug. 


Das Gehirn hat die geringsten Reserven. Acht Minuten kann es auskommen ohne neuen Sauerstoff. Bei Herzstillstand. Im Durchschnitt. Bei normaler Körpertemperatur. Mit etwas Glück länger. Beobachtet wurden auch zehn Minuten. Fünfzehn. Spätestens dann ist Schluss. Die Zellen des Gehirns können ihr elektrisches Potential nicht mehr aufrecht erhalten. Natrium strömt ein. Legt die Zelle lahm. Bläht sie auf. Bringt sie zum Platzen. Zerstört sie. 

Doch schon zuvor: Die Energie reicht nicht mehr hin für Bewusstseins-Funktionen. Das Bewusstsein schwindet. Ohnmacht. Der Zentralcomputer wird ausgeschaltet. 

Ein Mensch, dessen Herz stillgestanden hat, wird sich später an nichts erinnern. An gar nichts. Amnesie. Ursache, unter anderem: das sofortige Ausschalten des Gehirns. Ein Mensch, dessen Herz stillgestanden hat, war natürlich auch nicht tot. Das Herz hat eben stillgestanden. Das ist sehr gefährlich. Es ist auch gefährlich, ohne Atmung zu sein. Aber es ist nicht der Tod. 

Das Gehirn: acht Minuten ohne Sauerstoff. Danach beginnt die Zerstörung. Nicht bei allen Zellen gleichzeitig. Im Großhirn zuerst. Im Cortex. Im Sitz des Bewusstseins. Des Denkens. Da, wo das Ich sitzt. 
Der Mensch, der jetzt wiederbelebt wird, ist nicht derselbe wie vorher. Er sieht aus wie derselbe. Seine Hände sind dieselben. Sein Gesicht. Seine Augen. Sein Mund. Seine Stimme. 
Sein Ich aber ist anders. Ist nicht mehr dasselbe. 
Manches, vieles vielleicht ist geblieben. Ist identisch mit dem was war. Einiges aber ist tot. Zerstört. Unwiederbringlich. Je länger das Gehirn ohne Sauerstoff war, desto mehr ist zerrissen. 
Geplatzt. 
Gestorben. 

Abwesenheit von Hirnströmen, Null-Linien-EEG. Herz- und Atemstillstand. Jedes für sich, selbst alles zusammen: nur notwendigen Bedingungen des Todes. Nicht mehr. Nicht hinreichende Bedingung. 


Die Diagnose muss bekannt sein, wenn man die Anzeichen als Todeszeichen werten will. Heißt es in den Lehrbüchern.

Erstaunlich: Was jeder intuitiv zu erfassen meint, der Tod, entzieht sich dem einfachen, dem trivialen wissenschaftlichen Zugriff. Was wirklich zählt, ist die Zeit. 
Dreißig Minuten lang keine Hirnströme. 
Falls keine anderen Ursachen vorliegen. Unterkühlung. Vergiftung. Zum Beispiel. Den Hirnstromtest wiederholen, bei Ungewissheit. Nach Stunden. Bei Kindern: nach vierundzwanzig Stunden. 
Wirklich völliger Stillstand des Kreislaufs. Das kann man messen. 
Genauer als den Herzschlag. Doppelseitige Angiographie: Ein Kontrastmittel wird in die Arterien des Gehirns gespritzt. Und dessen möglicher Weitertransport beobachtet. 

Der Tod kommt langsam. Ist kein Ereignis. Sondern ein Prozess. Kann Stunden dauern. Oder Tage. 
Am bekanntesten: die beiden Extreme. 
Alle Hirnfunktionen ausgefallen. Der Schädel zerschmettert, zum Beispiel. Das Gehirn: ohne Zweifel tot. Und doch funktionieren Atmung und Kreislauf. Manchmal sogar spontan. Ohne Maschinen. 
Und umgekehrt: Herz- und Lungenfunktion zerstört. Aber elektrische Aktivität im Gehirn. 

Seltsames wird berichtet aus der Zeit der Französischen Revolution: die Guillotinierten hätten, nach der Enthauptung, noch mit den Augen gerollt. Dem Henker, die Menge mit ihren Blicken erfasst. Erkennbare Mimik noch im Gesicht. Niemand weiß heute, was daran wahr ist. 
Ganz unmöglich jedoch scheint es nicht. Die Muskulatur des Schädels ist mit dem Hirn verbunden. Das Gehirn - acht Minuten - noch nicht zerstört. Nervenimpulse nicht ausgeschlossen. Und damit Innervation der Muskulatur. 
Ansonsten: alle Muskeln erschlafft. Nichts mehr da, das ihnen Impulse gäbe. 
Gestank darum als erstes. Gestank vom Urin. Und vom Kot. Kein Schließmuskel mehr, der den Kot zurück hielte. Den Urin. 
Der Tod stinkt. 

Und dann: die Pupillen weit und starr. Kein Muskel zieht sie mehr zusammen. 
Kein Gefühl, keine Empfindung mehr im Gesicht. Kein Muskel, der ein Mienenspiel ausdrücken, kein Nervenimpuls, der einen letzten Ausdruck im Gesicht festhalten könnte. Das Gesicht nimmt genau den Ausdruck an, der entsteht, wenn es geformt wird durch Schwerkraft. Schwerkraft zieht die Wangen nach unten. Mit ihnen die Lippen. Das mag einem Lächeln ähneln. 
Der Tod lächelt. 

Und doch: Die Muskeln sind ja noch da. Sind nicht zerstört. Noch nicht. Und die Sehnen. Und zahlreiche Nervenbahnen. 


Auch alle übrigen Organe: noch unbeschädigt. 
Nur im Gehirn: Fast sofort setzt die Zerstörung ein. 
Das Herz übersteht den Stillstand des Kreislaufs, die Abwesenheit von Sauerstoff und Nahrungsmitteln, übersteht all dies, unbeschadet, eine Viertelstunde. Vielleicht eine halbe. Knapp viermal länger als das Gehirn. 

Mehr als eine halbe Stunde: die Leber.

Erste Schäden an der Lunge: eine Stunde erst nach dem Tod. Die Nieren leben anderthalb Stunden, auch zwei, nachdem der Mensch gestorben ist. Und seine Muskeln sind auch nach vier Stunden nicht tot. Nicht mal beschädigt. 
Hält man den Kreislauf aufrecht, auch nach der Zerstörung des Gehirns: Sechs Stunden hat man Zeit, Organe zu entnehmen. 

Mit am längsten überlebt, was Leben erzeugen könnte. Sperma. Bis zu dreiundachtzig Stunden länger als der Mann, dessen Körper es produzierte. 
Dreieinhalb Tage. Beginnt erst dann wirklich zu zerfallen. Bleibt geeignet zur Erzeugung neuen Lebens. Das Gehirn ist längst ein unförmiger Brei geworden. Die inneren Organe zerstört. Vielleicht ist der Leichnam beerdigt, inzwischen. Doch sein Sperma lebt: das Spermatozoon, nicht viel mehr als ein von einer Zellwand umgebener Träger von Information. 
Die Eizelle dagegen, umhüllt von Nährstoffen, wird schon nach Stunden zerstört durch den Zerfall, die Fäulnis gerade dieser Nährstoffe. 

Die Fliegen. Legen Eier ab. In den Augen zuerst: das Gemisch aus Wasser und Eiweiß - ein vorzüglicher Nährboden. Fliegenmaden werden aus den Eiern schlüpfen. Bald. Sich nähren vom Eiweiß der Augen. Sie leer fressen. 
Und heranwachsen. Einen Millimeter pro Tag. Im Durchschnitt. 
Was dann zu blicken scheint aus den Höhlen, aus denen das genarrte Bewusstsein der Lebenden meint angeschaut zu werden - ist das Gewimmel der Maden. 
Auch die ringförmige Muskulatur der Pupillen gehört zu den gefährdetsten Teilen. Sie unter allen Muskeln zerfällt mit als erste. 
Ihren Träger freilich überlebt selbst sie um Stunden. Vier Stunden noch nach dem Tod reagiert sie auf Augentropfen mit Kontraktionen. Auf Injektionen einen halben bis ganzen Tag. 

Überhaupt: die Reizbarkeit. 
Vieles, was da nun unweigerlich zerstört werden wird, wartet anscheinend nur darauf, neu aktiviert zu werden. 
Die Muskeln: reagieren auf Reize. Bis zu acht Stunden auf Elektrizität. Mechanisch: einfaches Klopfen lässt sie wulstförmig sich zusammenziehen. Während der ersten zwei bis sechs Stunden. Zeichen erster Mangelerscheinungen: Auch bei lebenden Menschen kommt das vor. 
Als Folge lang dauernder Unterernährung. Oder als Folge von Kochsalzverlust. Oder von Krankheit. Wie der Ruhr. 

Fast anderthalb Tage lang werden die Schweißdrüsen Schweiß absondern, wenn man sie chemisch reizt. Zwei Tage lang wird Histaminchlorid dafür sorgen können, dass die Haarbälge sich aufrichten. 
Selbst im Herzen: noch nach Stunden spontane Reize. Das EKG, auch zwei Stunden nach dem Tod: keine ausschließlich gerade Linie. Das Gehirn, das es steuert: fast schon nicht mehr strukturiert; die meisten seiner Zellen unter dem osmotischen Druck geborsten - doch das Herz zuckt auf, gelegentlich, selten, immer seltener. Aber bewegt sich. Kommt endgültig zur Ruhe erst über zwei Stunden nach dem Tod. 

Die Nerven, obwohl von gleicher Machart wie das Gehirn, sterben viel langsamer als diese. Die meisten vitalen Reflexe verschwinden mit dem Tod. Das Fehlen der Pupillen- und Hornhautreflexe, des Mundschluss-, des Würge-, des Schluck- und des Luftröhrenreflexes: vom Arzt untersuchte Todeszeichen. 
Der Archillessehnenreflex, der die für den Gang entscheidende Sehne schützt: Bei unvermuteter Berührung von hinten reißt der Reflex die Ferse hoch und verlagert so die empfindliche Sehne tiefer ins Körperinnere; dieser Archillessehnenreflex verteidigt noch nach dessen Tod den aufrechten Gang eines Menschen, der nie mehr laufen wird. 

Stundenlang auch die letzte reflexhafte Erektion des Penis zum Phallus, die der Mann, lebte er, als schmerzhaft empfände. Als Krankheit. Als behandlungsbedürftigen Priapismus. 

Abkühlung. Recht schnell am Anfang. Langsamer dann. Im Durchschnitt: ein Grad pro Stunde. Bis der Körper die Temperatur seiner Umgebung hat. Es gibt keinen Stoffwechsel mehr, der den Körper erwärmen könnte. 
Das Blut. Aus feinen und feinsten Äderchen der Haut, den Hautkapillaren, sammelt es sich, in hintereinandergeschalteten Venennetzen. Die Venen des kapillaren Netzes münden in das venöse Hauptnetz. Das Blut fließt, der Schwerkraft folgend, nach unten. 
Füllt, dunkel, die unten liegenden Hautpartien - die, in die es eindringen kann: kein Kreislauf drückt es in diejenigen Adern und Leitungen, die abgeklemmt sind, weil der Tote darauf liegt. Von außen sichtbar werden dunkle Blutansammlungen unter der Haut. Die Totenflecken. 

Mit der Zeit verändert das Blut seine Gestalt. Die chemische. Die physikalische. Früh schon trennen sich die dunklen roten Blutkörperchen und das hellere Plasma. Aus einer Verletzung flösse jetzt beides: dickflüssig und klumpig die roten Blutkörperchen. Wie Wasser davon sich abhebend: das Plasma. 
Wasser und Blut seien aus der Wunde in seiner Lende geflossen, die der römische Legionär ihm mit seiner Lanze zugefügt hatte, heißt es, nach dem Tode Jesu. 

Die Dissoziation der nach unten absinkenden schwereren und leichteren flüssigen Teile geht nicht sehr schnell vor sich. Die ersten Totenflecken treten nach zwanzig Minuten auf, nach einer Stunde spätestens. Nach vielleicht sechs Stunden beginnen sie, miteinander zu verfließen. Die Durchmischung der festen Bestandteile mit der Flüssigkeit ist aber noch nicht wirklich aufgehoben. Lagert man den Toten um, verlagern sich auch die Totenflecken. 
Vollständig in den nächsten sechs Stunden. Teilweise einen halben Tag lang. Erst nach einem, anderthalb Tagen ist das Blut so weit zerstört, entmischt, dass die Totenflecken nicht mehr zu verlagern sind. Durch nichts. 

Die Totenstarre. Vier Stunden nach dem Tod beginnt sie. Im Kiefergelenk zuerst. Aus Energiemangel sind die Zellen der Muskulatur nicht mehr in der Lage, jene Verknüpfungen zu lösen, die beim Lebenden die Kontraktion des Muskels überhaupt erst ermöglicht. Im Zelltod verkrallen sie sich jetzt. Verhaken sich. Erzeugen einen Zustand, der einem Krampf nicht unähnlich ist. Es ist kein Krampf. Ein Krampf setzt Nervenaktivität voraus. Es gibt keine aktiven Nerven mehr. 


Im Laufe der nächsten zwei bis fünf Stunden wird die Erstarrung der Muskeln sich ausbreiten. Über den ganzen Körper. Die Totenstarre wird erst enden, wenn die Zellen der Muskulatur nicht nur gestorben sind. 
Auch ihre Struktur muss zerstört sein. Die mechanischen und chemischen Greifarme und Haken, mit denen sie sich gegenseitig fesseln: Sie müssen vernichtet sein. Was immer an ihnen Struktur war: Es muss eliminiert sein. Erst dann wird man die Glieder dieses Körpers wieder bewegen können. 


Aber was dann bewegt wird, sieht nur noch aus wie ein Körper. Das Erstarren der Muskulatur im Absterben ihrer Zellen war der letzte Ausdruck des schwindenden Lebens. 
Übrig bleibt nach dieser Starre wenig mehr als eine Ansammlung von vielerlei Stoffen und Bestandteilen der organischen Chemie. 

Ein langer Übergang. Er dauert mindestens fünfzig Stunden. Gut zwei Tage. Ganz verloren ist der Kampf der Muskulatur nach spätestens dreihundert Stunden. Zwölfeinhalb Tage. 
Erst dann ist die Totenstarre endgültig gelöst. Spätestens dann kann man sagen: Dieser Mensch ist völlig gestorben. Der letzte Kampf der Muskeln beendet. 
Es war natürlich kein wirklicher Kampf. Chemische und physikalische Prozesse brauchen einfach ihre Zeit. 


Andernorts ist gleichzeitig der Zerstörungsvorgang schon weiter. Und sichtbarer. Das Herz hat aufgehört zu schlagen. Blut wird nicht mehr transportiert. Und mit ihm nicht nur kein Sauerstoff, auch kein Wasser mehr. 


Zuerst vertrocknet die Haut. Zuallererst die Hornhaut des Auges. Sie ist trübe nach einer Stunde. Dann: die Bindehaut. Trocknet ein. Graubräunlich. Die Lippen. Der Hodensack. Die Schamlippen. Die Vorhaut. Trocknet schon ein, während zugleich noch, womöglich, eine reflexartige Erektion Leben spielt. Mag sein, dass diese Vertrocknungen gar nicht so auffallen. Hautvertrocknungen sind braunrot. Beginnen, wo die lebende Haut selbst schon rötlicher ist. Dunkler. 
Doch sind sie zu fühlen. Fest und hart. 
Als macht der Tod sich lustig: Gerade die sonst, im Leben, besonders weichen, besonders sensiblen Lippen und Geschlechtsteile werden zuerst ledrig und hart. 
Außerdem spielt er Leben vor, Wachstum: Die Vertrocknung lässt Haare, Barthaare zumal, hervortreten. Als seinen sie gewachsen. 

Fester, optisch auch dichter: die Haut. Sie vor allem wird überdauern, lange Zeit, falls Mumifizierung eintritt: in trockener, windiger Luft. Gewöhnlich aber wird sie verfaulen. 
Alle anderen Zellen, zerborsten unter osmotischen Druck, haben eine Vielzahl von Enzymen, Chemikalien freigesetzt. Manche Zellteile arbeiten sogar weiter trotz des Untergangs ihres Wirts, der Zelle. All dies beginnt nun ungesteuert zu wirken. Zerstört selbstständig, was vielleicht sonst noch gehalten hätte. Autolyse. Der Körper vermischt sich selbst. 

Im Magen wird die Salzsäure nicht mehr wohldosiert abgegeben. Frisst sich durch die Magenwände. Die Gifte in Leber, Nieren: werden nicht mehr verarbeitet. Sind nur noch hochwirksame Chemikalien. 
Die Bakterien, die dem Lebenden gedient hatten, genutzt, im Darm, im Mund, beispielsweise, sie werden nicht mehr kontrolliert durch körpereigene Funktionen. Vermehren sich sprunghaft. Ihre Ausscheidungen, schweflige Verbindungen zumeist: Nichts baut sie mehr ab. Später werden diese Bakterien an ihrem eigenen Umweltproblem zugrunde gehen. 

Vorerst aber verbindet sich der Schwefel mit den roten Bestandteilen des Blutes. Erzeugt Sulfhämoglobin. Das beginnt im Bereich des Unterbauchs. Er wird grünlich gefärbt durch das Sulfhämoglobin. Einige Zeit später wird der rote Farbstoff des Blutes, das Hämoglobin, im gesamten Venennetz zu Sulfhämoglobin. Am ganzen Körper werden die Adern sichtbar als dunkel-grünliches Netz. 

Inzwischen haben längst auch andere Bakterien den Leichnam besiedelt. Kein Immunsystem hält sie mehr ab. Autolyse, bakterieller Fraß und gasförmige bakterielle Ausscheidungen erzeugen Fäulnisflüssigkeiten. Fäulnisgase. Sogenannte biogene Amine. Methylamin. Stinkt wie alter Fisch. Indol. Kresol. Schwach rötliches Phenol. Skatol: der Fäkaliengeruch. Fettsäuren. Weiß. Oder farblos. Fügen dem fauligen Fischgestank und dem nach Fäkalien den von Fußschweiß hinzu. 
Beißendes Ammoniak. Histamin. Kohlendioxid. Säuerlich. Den Gestank des austretenden Schwefelwasserstoffs hielt man einst für den der Hölle. 

Viele dieser Chemikalien: flüssig. Werden einsickern, später, in den Boden. Eine üble Chemiebrühe. Fast das gesamte Körpergewicht. Sechzig, achtzig Kilo. Fast ebenso viel Liter. Andere gasförmig. Die Gase füllen die Hohlräume des Körpers. Blähen ihn auf. Der Bauch schwillt. 

Die Augenlider: ödematös, geschwollen. Die Lippen: dick und wulstig. Der Gasdruck presst Gewebewasser und Fäulnisflüssigkeit unter die Haut. Hebt sie ab. Die Farbe wechselt. Von anfangs grünlich. Über schmutzig-rötlich. Bräunlich. Bis: tief grün-schwarz. 
Erzeugt Blasen. Dunkelviolett. Fäulnisblasen. Zerreißt endlich die Haut. Fäulnisflüssigkeit fließt aus den geplatzten Blasen. Aus Mund. Nase. Ohren. Aus sämtlichen Körperhöhlen. Dunkelrötlich. Fast wie Blut. 

Die Leber: weich, teigig. Zeigt Gasbildung. Wird zur Schaumleber. Dunkelgrün bis schwarz. Auch die Milz: dunkelgrün bis grauschwarz. Die Blutgefäße: rötlich durchtränkt an der Innenhaut. 


Das Gehirn: Brei, wie Paste. Grünlich. Und rot. Wird sich vollends verflüssigen, später. 

Madenfraß. Nach den Augen die Wangen. Die Zähne liegen frei. Der Mund wird breit. Grinst. 


Insektenlarven in Hautrissen. Weichteilen. Durchlöchern Haut und Gewebe. Wachsen heran zu Insekten. Legen neue Eier ab in dem fruchtbaren Boden. Ameisen erzeugen landkartenähnliche Hautvertrocknungen. Ihre Sekrete färben die Haut schwarz. 

Acht Wochen, bis die letzten Teile des Körpers von Fäulnis erfasst sind. Im Erdgrab. Geschlechtsorgane: weibliche und männliche; Schwellkörper und Uterus: Sie halten am längsten. Halten Fäulnis und Verwesung am ehesten stand. Eine Erklärung dafür gibt es nicht. Nur einen Erfahrungswert. Gerichtsmedizinisch. 

Verschwinden der Weichteile: drei bis vier Jahre. Skelettierung. 
Knochenentfettung und restloses Austrocknen: über zehn Jahre. 

Dann: Umsetzen des Kalks durch Pflanzen. 
Pulverisierung. 
Der Tod ist abgeschlossen. 

(Autor: Gotthard Schmidt)

1 Kommentar:

  1. Ich weiß nicht was ich von diesem Text zu halten habe. Auf der einen Seite sehr - vielleicht schon zu - anschaulich geschrieben, auf der anderen Seite schockierend was nach dem Tod, oder nachdem der Mensch von den Ärzten für Tot erklärt wurde noch alles passiert. Es dauert also Tage bis wirklich keinerlei Leben mehr in einem Körper steckt. Schockierend, dass die Haut aufplatzt...Dinge die ich niemals gedacht hätte. Bleibt nur zu hoffen, dass man davon, von alldem nichts mitbekommt...

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